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Was ist eigentlich... #4: Kontrapunkt?


Mephisto
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So, jetzt endlich einmal von mir die vor Monaten versprochene "Kontrapunkt"-Erläuterung. Für die Verzögerung bitte ich um Entschuldigung. Ich hoffe, dem komplexen Thema hier einigermaßen gerecht werden zu können, und dabei gleichzeitig allgemein verständlich erläutern zu können. Sollten Dinge unklar bleiben oder Missverständnisse entstehen, dann gebt bitte unbedingt Rückmeldung!

Und nun zur Sache :D:

Um sich dem Begriff "Kontrapunkt" anzunähern, ist es notwendig, bestimmte Sachverhalte in der mitteleuropäischen Musiktradition vorzustellen, aus denen sich "Kontrapunkt" ableitet.

 

1. "Stimmen"

Musik ist in erster Linie ein akustisches Ereignis. Der Komponist Edgar Varèse sprach vom "organisierten Klang". Ob die Klänge dabei von einem Komponisten geordnet werden oder von Instrumentalistinnen aus dem Moment heraus improvisiert werden, ist erst einmal unerheblich.

Die zu "Musik" geordneten Klänge können entweder durch die Stimme (Gesang) oder Instrumente erzeugt werden. Dabei nennt man jeden "Beitrag", der durch Gesang oder ein jeweiliges Instrument zu einem Musikstück hinzugefügt wird, "Stimme" - ganz egal, ob wirklich gesungen oder auf einem Instrument gespielt wird. Wenn also ein Trio aus Flöte, Violine und Klavier zusammenspielt, dann spielt je ein Ensemblemitglied eine "Flötenstimme", eine "Violinstimme" und eine "Klavierstimme". Im eher angelsächsisch geprägten Popmusikbereich spricht man auch gerne von "Parts", also beispielsweise von einem "Gitarrenpart".

Die Bezeichnung von jedem musizierenden Element als "Stimme" gibt auch Auskunft darüber, wie viele Leute mindestens an einem Musikstück beteiligt sind. Wenn ich z. B. von einem "vierstimmigen" Stück für Ensemble spreche, dann ist klar, dass mindestens vier Leute benötigt werden, um das Stück aufzuführen. Manchmal werden auch einzelne Stimmen von mehreren Instrumenten "gedoppelt" - d. h. zwei (oder mehr) Instrumente spielen exakt das gleiche. Das ist oft im Orchester der Fall, wenn z. B. alle Celli gemeinsam eine Melodie spielen. Hier sagt man dann: Die Celli spielen "unisono". Somit kann auch ein zweistimmiges Stück von zehn Instrumenten gespielt werden. Hier würde sich dann sinnigerweise ungefähr die Hälfte der zehn Instrumente eine Stimme teilen.

Ein Musikstück ist also immer mindestens einstimmig. Hier ein Beispiel. Ein Stück for Soloflöte. Da die Flöte immer nur einen Ton gleichzeitig spielen kann, ist das Stück "einstimmig".

 

Was aber, wenn ich mit mehreren Stimmen arbeiten will? Wenn ich kein totales Chaos oder reine Beliebigkeit "komponieren" möchte, müssen sich die einzelnen Stimmen zueinander verhalten. In der Musik haben sich in den letztn 500 Jahre verschiedene Regeln herausgebildet, nach denen man mit mehreren Stimmen komponieren kann und es sich "gut, "richtig" oder "schön" anhört.

 

2. "Melodie & Harmonie"

Wenn ich mit mehreren Stimmen arbeite, habe ich verschiedene Möglichkeiten, die verschiedenen Stimmen zu organisieren:

I. Ich kann sie gleichberechtigt behandeln.

II. Ich teile Sie in "Haupt- und Nebenstimme" bzw. "Melodie und Begleitung".

Betrachten wir zuerst die zweite Möglichkeit. In der Titelmusik zu THE LAST CASTLE von Jerry Goldsmith spielt die Trompete zu Beginn ein Solo, das in den ersten 45 Sekunden ausschließlich von den Bässen begleitet wird.

Alle Kontrabässe spielen nur eine Note, sie spielen also "unisono". Da die Bässe ihren Ton sehr lange spielen, spricht man von einem "Liegeton", da er gleichsam "unter dem Trompetensolo liegt". Für das Solo der Trompete ist dieser Liegeton eine Art Fundament. Die Töne der Trompete stehen in einem bestimmten harmonischen Bezug zu dem Liegeton der Kontrabässe, d. h.: Die Trompete spielt eine Melodie, die harmonisch zum Liegeton der Kontrabässe "passt".

Streng genommen sind die ersten 45 Sekunden des Hauptthemas zu THE LAST CASTLE zweistimmig. Ich brauch ein Instrument, das einen tiefen Liegeton spielt und ein Melodieinstrument.

So hat es beispielsweise auch Mozart gemacht, als er sein Duo für zwei Violinen Nr. 5 schrieb: Hier gibt es zu Beginn ganz offensichtlich gibt es eine Violine, die die Melodie spielt, während die andere die Begleitfunktion einnimmt. Es gibt also eine "Hauptstimme" und eine "Begleitstimme".

 

Ich kann aber auch zweistimmige Stücke schreiben, in der zwei Melodiestimmen vorkommen. Als Beispiel ein Flötenduett von Beethoven:

 

Hier merkt man, dass beide Flöten gleichberechtigt sind, d. h. beide Flöten haben eine "Melodiestimme" und keine "Begleitstimme". Die beiden Stimmen der Flöten verhalten sich aber ähnlich zueinander wie Melodie und Begleitung in dem Sinne, dass sie harmonisch "zueinander passen".

Das wird einerseits durch den harmonischen Rahmen reguliert, den Beethoven gewählt hat, andererseits aber auch durch die Regeln, die sich für das Schreiben zwei (oder mehr) gleichberechtigten Stimmen herausgebildet haben.

So hat man sich zum Beispiel seit dem 16. Jahrhundert dagegen gesträubt, Stimmen in bestimmten Abständen genau parallel verlaufen zu lassen. Das galt als primitiv und war verpönt. Miklós Rózsa hat dann teilweise absichtlich so "primitiv" komponiert, wenn die Musik besonders archaisch wirken sollte, so z. B in KING OF KINGs beim "John-the-Baptist"-Thema:

Hier hört man sehr gut, wie in den ersten 18 Sekunden die Melodie von zwei verschiedenen Instrumenten, also zweistimmig, gespielt wird. Die beiden Stimmen verlaufen aber genau parallel. Geht das eine Instrument rauf, folgt ihm das andere auf Schritt und Tritt. Man muss sich das bildlich so wie zwei Linien vorstellen, die mit etwas Abstand zueinander horizontal identisch nebeneinanderlaufen. Also rhythmisch spielen beide Instrumente "unisono".

Diese Form "parallele Stimmführung", wie so etwas folgerichtig genannt wird, galt also als "primitiv". Um die Gleichberechtigung zweier (oder mehrerer) Stimmen hervorzuheben, entschied man sich daher, sie nicht parallel verlaufen zu lassen, sondern sie hauptsächlich gegeneinander laufen zu lassen. Das bedeutet: geht eine Stimme rauf, geht die andere runter. Wie genau die jeweiligen Gegenbewegungen ablaufen, entscheidet dabei das harmonische Gerüst, in dem sich die Musik bewegt.

Dieses Prinzip von zwei (gleichberechtigten) Stimmen, die sich individuell (im Sinne von "gegeneinander") zueinander verhalten, aber durch den harmonischen Rahmen miteinander verbunden sind, nennt man Kontrapunkt (="Gegenstimme")

 

3. "Kontrapunkt" in der Praxis

Häufig werden in der Musik verschiedene Praktiken und Möglichkeiten kombiniert. So schließen sich z. B. "Kontrapunkt" und "Begleitung" nicht aus. Häufig werden auch Begleitstimmen "kontrapunktisch" zu Hauptstimmen gestaltet. Oder aber zwei (oder mehrere Stimmen) werden über eine eindeutige Begleitung "gelegt", wie Goldsmith es bei der Titelmusik zu FIRST BLOOD gemacht hat.

 

Auch hier steht wie bei THE LAST CASTLE wieder ein Trompetensolo im Mittelpunkt. Die Gitarre nimmt dabei die Funktion ein, die die Kontrabässe in LAST CASTLE hatten. Die Trompete spielt zuerst die Hauptstimme und wird bei 00:45 von den (unisono spielenden) Streichern "abgelöst". Die Musik ist bis hier ein bisschen wie ein Song mit Strophe und Refrain aufgebaut. Die Trompete spielt die "Strophe" und die Violinen antworten mit dem "Refrain". Neutraler würde man hier von einem A- und einem B-Teil sprechen.

Wie erwartet beginnt die Trompete nach den Violen wieder mit ihrer "Strophen"-Melodie (dem A-Teil), doch Goldsmith lässt die Violinen weiterspielen. De Trompete erklingt hier also nicht mehr allein über der Gitarrenbegleitung, sondern zusammen mit den Violinen. Diese spielen aber nicht auch den A-Teil, sondern einen auf ihn bezogenen Kontrapunkt! Trompetenstimme und Violin-Kontrapunkt beziehen sich wiederum harmonisch auf die begleitende Gitarre.

Im Übrigen kann man hier - wenn man genau hinhört - auch sehr gut erkennen, wie das mit dem "Kontrapunkt" im Sinne von "Gegenstimme" gemeint ist. Denkt Euch mal beim Anhören die Gitarre weg und konzentriert Euch nur auf die Trompete und den E-Bass, der bei 00:25 einsetzt. Die Bassstimme ist nämlich ebenfalls kontrapunktisch zur Trompetenmelodie gestaltet:

bei 00:32 - 00:35 geht die Trompetenstimme runter, während der der Bass ganz klar zu hören nach oben steigt!

bei 00:38 - 00:39 geht die Trompete wieder rauf und der Bass nach unten!

 

Eine andere kontrapunktische Arbeit hat Goldsmith dann bei RMABO III vorgenommen:

Hier hört man schon zu Beginn, spätestens beim Streichereinsatz ab 00:16, wie hier die Stimmen "gegeneinandergeführt werden - am deutlichsten bei 00:23 - 00:26.

Auch die Streicherstimmen während des Oboensolos sind kontrapunktisch zueinander und zur Hauptstimme der Oboe komponiert. Dadurch gelingt Goldsmith die starke Ausdruckskraft dieser Passage, indem sich immer neue harmonische Schattierungen ergeben.

Der Liegeton in the LAST CASTLE und die Abwesenheit eines Kontrapunkts während des eröffnenden Trompetensolos waren dagegen ideal, die Einsamkeit auszudrücken und die Resignation, während sich bei RAMBO III viele melancholische Gefühle vermischen.

Am schönsten finde ich persönlich den Kontrapunkt in den Violinen ab 02:45 - schlicht, aber wirklich ergreifend! Könnte jedesmal heulen, wenn ich diese Stelle höre.

 

4. Resumé

Die Beherrschung des Kontrapunkts erfordert eine sehr gute und langwierige Schulung. Zuerst einmal ist Kontrapunkt - die Lehre der "Stimmführung" - ein Handwerk. In der Praxis ermöglicht sie aber einerseits ein reicheres Klangbild, indem es nicht nur eine Haupt- und eine Nebenstimme gibt, sondern sich mehrere Stimmen auf kunstvolle Weise aufeinander beziehen können. Man kann also theoretisch guten Gewissens behaupten, dass jemand ein fähigererer Komponist ist, wenn er den Kontrapunkt beherrscht, als wenn er es nicht tut. Das bedeutet aber in der Praxis relativ wenig.

Denn ein Stück wird nicht allein dadurch gut, dass es kontrapunktische Arbeit aufweist. Wie wir gesehen haben, ist ja Rózsas Stück genau deswegen gut, weil es durch Verzicht auf kontrapunktische Regeln eben jene Archaik transportiert, die es rüberbringen soll. Dass es zu Beginn von THE LAST CASTLE keinen Kontrapunkt gibt, ist ebenso schlüssig wie die Tatsache, dass es in RAMBO III einen gibt.

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vor 2 Stunden schrieb Mephisto:

Lieber Gerrit, vielen Dank für diese Erklärung.

Musik hören, ist eine Sache, sie aber auch verstehen, steht auf einem ganz anderen Blatt.

Ich werde noch viele Beispiele hören müssen, um den Kontrapunkt herauszufinden, aber jetzt lichten sich mal die "Klangnebel";).

Nochmals vielen Dank für Deine Mühe.

 

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Vielen Dank für die Mühe, Gerrit. Trotzdem finde ich, dass hier das eingetreten ist, vor dem ich im anderen Thread schon gewarnt hatte: 

Zitat

Noch ein kurzer Gedanke dazu: ich denke, wir sollten uns hier zum Ziel setzen, kurz, bündig und verständlich zu erklären. Kein langer Text, nicht umständlich formuliert. Wenn du dir da jetzt eine Woche Zeit für nimmst, befürchte ich Ausführlichkeit... 

Das Ganze ist eine wirklich ausführliche, musikwissenschaftliche Einführung geworden (und als solche natürlich auch gut und schlüssig), aber eben keine kurze, bündige, lexikalische Erklärung des Begriffs. Selbst ich muss mir da konzentriert eine halbe Stunde Zeit nehmen, um alles zu verstehen - ich könnte mir vorstellen, dass das für die weniger musikalisch vorgebildeten User ein noch größerer Brocken ist, der vielleicht eher einschüchtert als zur Auseinandersetzung motiviert. 

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vor 27 Minuten schrieb Sebastian Schwittay:

ich könnte mir vorstellen, dass das für die weniger musikalisch vorgebildeten User ein noch größerer Brocken ist

In dieser ausführlichen Form finde ich es aber schon ganz lehrreich, zeigt es mir doch, wie viele musikalische Feinheiten hinter diesem Begriff stecken. Die Beispiele sind anschaulich und ich meine auch das meiste davon verstanden zu haben. Schwierigkeiten habe ich vor allem beim First-Blood-Thema, deswegen muß ich da nochmal nachfragen:  Der Kontrapunkt ist hier nicht in der Gitarrenbegleitung zu finden, sondern im Verhältnis der Trompete und der Streicher zueinander? Also die Trompete spielt weiterhin den A-Teil und die Streicher gleichzeitig eine neue Melodie (also den B-Teil des Themas)?

Was mir überhaupt nicht einleuchtet ist dann diese Sache mit dem Bass. Wieso wird da gleich ein Kontrapünktchen draus wenn der mal für drei Sekunden etwas lauter und wieder leiser wird?

 

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Vielen Dank für die zahlreichen Rückmeldungen! Ich bin auch froh, das endlich einmal umgesetzt zu haben.

Sebastian, Deine Kritik kann ich nachvollziehen. Ich bin aber erleichtert, dass man sich anscheinend nicht automatisch abgeschreckt fühlt. Das Problem ist halt, dass es sich bei "Kontrapunkt" um ein sehr komplexes Gebiet handelt, das eine Erläuterung ohne jede Fachbegriffe fast unmöglich macht. Wenn ich geschrieben hätte:

Unter "Kontrapunkt" versteht man hauptsächlich eine "Gegenstimme" zur "Hauptstimme", dann wäre vielen nicht klar geworden, was damit gemeint war - einfach, weil man im Alltag "Stimme" einfach benutzt.

 

vor 15 Stunden schrieb Krabat:

Lieber Gerrit, vielen Dank für diese Erklärung.

Musik hören, ist eine Sache, sie aber auch verstehen, steht auf einem ganz anderen Blatt.

Ich werde noch viele Beispiele hören müssen, um den Kontrapunkt herauszufinden, aber jetzt lichten sich mal die "Klangnebel";).

Nochmals vielen Dank für Deine Mühe.

Im Grunde genommen ist es gar nicht so schwer, zu erkennen, wo sich ein Kontrapunkt in der Musik befindet. Im Grunde handelt es sich dabei ja um eine weitere Melodiestimme, die nicht direkt die Melodie spielt, sondern eigenständig ist und auch eine eigene melodische Qualität besitzt, aber sich harmonisch ständig auf die Melodiestimme bezieht. Also alles, was die Violinen während des zweiten Trompetensolos in der Titelmusik zu FIRST BLOOD spielen (und ab 0:45 in RAMBO III) ist letzten Endes ein Kontrapunkt.

Mit "Kontra" im Sinne von "Gegen" ist nicht gemeint, dass der Kontrapunkt immer eine genaue Spiegelung zur Melodie bildet (wird in der Melodie eine Aufwärtsbewegung gespielt [=die Töne werden immer höher]), dann muss der Kontrapunkt abwärts laufen. Aber grundsätzlich ist eine entgegengesetzte "Stimmführung" interessanter und kunstvoller, als wenn an die Stimmen einfach parallel setzt. Auch rhythmisch kann sich der Kontrapunkt von der Melodiestimme absetzen, was er ja auch bei den beiden RMABO-Beispielen tut.

vor 13 Stunden schrieb Angus Gunn:

In dieser ausführlichen Form finde ich es aber schon ganz lehrreich, zeigt es mir doch, wie viele musikalische Feinheiten hinter diesem Begriff stecken. Die Beispiele sind anschaulich und ich meine auch das meiste davon verstanden zu haben. Schwierigkeiten habe ich vor allem beim First-Blood-Thema, deswegen muß ich da nochmal nachfragen:  Der Kontrapunkt ist hier nicht in der Gitarrenbegleitung zu finden, sondern im Verhältnis der Trompete und der Streicher zueinander? Also die Trompete spielt weiterhin den A-Teil und die Streicher gleichzeitig eine neue Melodie (also den B-Teil des Themas)?

Was mir überhaupt nicht einleuchtet ist dann diese Sache mit dem Bass. Wieso wird da gleich ein Kontrapünktchen draus wenn der mal für drei Sekunden etwas lauter und wieder leiser wird?

 

Gut, dass Du nachfragst, denn da hat sich anscheinend ein Missverständnis ergeben! :)

Erst einmal hast Du richtig erkannt, dass die Gitarrenstimme Begleitung ist, auf die ich nicht näher eingegangen bin.

Wenn Du noch einmal bei FIRST BLOOD genau hinhörst, wirst Du schnell merken, dass die Violinen ab 01:04 den B-Teil nicht wiederholen. Im Gegensatz zum ersten Trompetensolo schweigen sie nicht, sondern spielen eine eigene, neue Melodielinie. Diese ist aber die ganze Zeit auf das Trompetensolo bezogen, "umkreist" die Trompete fast. Und genau das ist der Kontrapunkt: Eine Linie, die eigene melodische Qualität besitzt (man kann sie, wenn man das Stück gut genug kennt, wunderbar mitsingen), die aber nur in Kombination mit der Melodiestimme auftritt, die wiederum als Hauptstimme erkennbar ist. Der Fokus liegt ja bei dieser Stelle ganz klar auf der Trompete.

Bei den Stellen mit dem E-Bass hat sich anscheinend ein begriffliches Missverständnis ergeben: Es geht nicht um Lautstärke, sondern Tonhöhe.

An diesen Stellen kann man nämlich gut hören, dass sich die Melodie im E-Bass und in der Trompete immer entgegengesetzt verhalten. Wenn Du Dir nur diese kurzen Ausschnitte anhörst, wirst Du erkennen, dass die Töne der Trompete zuerst nacheinander tiefen werden, während der Bass nacheinander immer höhere Töne spielt. Wenn die Töne der Trompete bei der nächsten Stelle immer höher werden, "rutscht" der Bass von höheren Tönen zu tiefen Tönen runter.

Damit wollte ich nur kurz andeuten, dass diese "Gegenbewegungen" charakteristisch für den Kontrapunkt sind.

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Nur zum Verstehen: Denke die meisten kennen die "Titanic-Suite" auf dem Back to Titanic-Album. Gegen Ende wird da die Hauptmelodie gespielt und im Hintergrund passiert auch eine Menge. Die normale Begleitung und dann noch eine weitere Melodie, die den Teil zwar unterstützt, aber doch auch ihren eigenen Weg geht. Ist das dann auch ein Kontrapunkt?

Hier zu hören ab Minute 16:50

 

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Schön, dass Du fragst, Oli! :)

Tatsächlich ist diese Passage kontrapunktisch gestaltet - und zwar auf eine sehr interessante Weise. Die Violinen und der Dudelsack stehen hier nämlich in einem kontrapunktischen Verhältnis: Die beiden Themen, die ja auch isoliert in der Musik auftreten, also jeweils für sich, sind harmonisch auf dem gleichen Gerüst aufgebaut. Daher kann Horner sie, ohne eine Veränderung an einem der beiden Themen vorzunehmen, einfach "übereinanderlegen". Ich würde sagen, dass die Violinen hier die Hauptstimme bilden, weil sie viel präsenter sind als der Dudelsack, der in den Violinklang gewissermaßen "eingewoben" ist. Chor und tiefe Streicher haben hier eine Begleitfunktion, sie "füllen" das Klanggebilde und schaffen einen harmonischen Rahmen, in dem sich Dudelsack und Violinen bewegen können.

Bei 17:27 endet (ab dem Beckenschlag) dann ja auch das kontrapunktische Spiel und die Violinen schließen sich mit dem Chor zusammen, während der Dudelsack schweigt.

Allerdings kann man dann bei genauen Hinhören in den Celli eine eigene Melodielinie erkennen, die zwar größtenteils auf die Violin- und Chorstimme (Chor und Violinen musizieren hier "unisono"! ;)) reagiert und nicht so sehr als "Gegenbewegung" fungiert, aber doch den Charakter eines Kontrapunkts hat.

Horner war ja ein klassisch-akademisch geschulter Komponist und es lag für ihn natürlich nahe, seine Partitur mit Kontrapunkten auszuschmücken und nicht nur immer eine Melodiestimme über Liegetöne zu legen. Das macht die Musik oft auch gleich interessanter und reizvoller - es sei denn, man möchte wie Goldsmith in THE LAST CASTLE Einsamkeit ausdrücken. Dann ist eine alleinstehende Melodiestimme natürlich umso wirkungsvoller.

Für mich persönlich schaffen Kontrapunkte oftmals einen sehr starken Eindruck, als wenn ich einfach "nur" eine Melodie über Begleitung höre. Das liegt nicht daran, dass ich dann dasitze und denke "Aha, Kontrapunkt - das ist gut komponiert!", sondern weil es der Musik für mich oft mehr emotionale Tiefe verleiht wie z. B. ab 02:45 in RMABO III. Wenn die Violinen da ihren Kontrapunkt über die Solotrompete spielen, bin ich viel ergriffener, als wenn die Trompete nur alleine spielt. Der Kontrapunkt verstärkt ja den harmonischen Charakter der Musik und lässt sie noch viel melancholischer wirken.

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Dankeschön für die sehr detaillierte (und das meine ich positiv) Bestätigung. Dieser Moment in der großartigen Suite gefällt mir schon immer sehr, weil wenn dann alles zusammengeführt wird und das Kontrapunkt-Spiel dann endet, hat das eine noch größere Wirkung, weil durch die mehreren Stimmen davor wirkt das so, als ob sie zwar das gleiche Ziel haben, jedoch auf unterschiedlichen Wegen dahin gelangen. Wenn sie dann gemeinsam beim Ziel angekommen sind, ist das musikalisch noch emotionaler als wenn alle den gleichen Weg gehabt hätten.

Nochmals oder überhaupt Danke für die Ausführungen. :)

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Am 12.5.2018 um 17:12 schrieb Mephisto:

Es gibt also eine "Hauptstimme" und eine "Begleitstimme".

Hallo Gerrit, zu den beiden hätte ich mal ne Frage:

Ich hab's jetzt schon ein paar mal angehört und bin mir nicht sicher.

Wechsel sich hier die Hauptstimme und Begleitstimme immer gegenseitig ab?

Also übernimmt im Wechsel den Part des Anderen?

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Gut beobachtet! Ja, die beiden Violinisten wechseln sich hier (beim Mozart-Duett) zu Beginn nacheinander ab: Zuerst spielt der "linke" und dann der "rechte" Spieler die Melodie, während der jeweils andere diese gleichmäßig "abgehackten" Töne als Begleitung spielt. Es ging mir bei diesem Beispiel allerdings nur um den Beginn.

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Am 12.5.2018 um 21:28 schrieb Angus Gunn:

In dieser ausführlichen Form finde ich es aber schon ganz lehrreich, zeigt es mir doch, wie viele musikalische Feinheiten hinter diesem Begriff stecken.

Am 12.5.2018 um 23:05 schrieb ataraxus:

ich muss auch sagen ich finde es so lehrreicher als kurz und bündig. 

Dann will ich nichts gesagt haben. 

Am 12.5.2018 um 23:05 schrieb ataraxus:

Was sollte das auch nützen ohne Hörbeispiele

Gegen die vielen Hörbeispiele hatte ich auch gar nichts einzuwenden - eher noch gegen die umfangreiche Hinführung zu den Begriffen "Stimme" und "Melodie/Harmonie". Da ich Kontrapunkt als lineares Phänomen begreife, hätte ich Melodiestimmen einfach als "Linien" bezeichnet, die sich entlang einer horizontalen Zeitachse bewegen - ein Kontrapunkt ist demnach eine ergänzende Linie ober- oder unterhalb der Hauptlinie bzw. Hauptmelodie. 

Gerade bei Goldsmith kommt diese Linearität immer wunderbar zur Geltung, vor allem in seinen Hauptthemen, etwa beim zweiten oder dritten Durchgang oder bei einer Wiederholung. Schön der Streicherkontrapunkt in der Pausenmusik von TORA! TORA! TORA!, der das Hauptthema in den Hörnern sogar noch übertönt (im Video ab 26:45): 

 

Auch einer meiner Favoriten: der Streicherkontrapunkt zum GREMLINS-Thema (Hauptthema liegt in den Bläsern) - visuell schön zu sehen hier ab 6:06, wo die Kamera gerade beim Einsetzen des Kontrapunkts über die Streicher fährt: 

 

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  • 1 Jahr später...
  • 2 Jahre später...

Da bins jetzt mochmal ich, und ich muss zu meiner Schande gestehen, das Video noch nicht gesehen zu haben, aber der hübsche Youtube Algorithmus schiebt mir gerade folgende Videos vor den Latz und da hab ich mich an diesen Thread zurückerinnert, vielleicht ist das ja doch von Interesse.

Kuss und Gruß!

 

 

 

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