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Der große Olivier-Messiaen-Thread


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Da wir noch gar keinen eigenen Thread zu diesem faszinierenden und extrem einflussreichen Komponisten des 20. Jahrhunderts haben, hole ich das jetzt mal nach. :) Olivier Messiaen (1908-1992) zählt zwar schon seit Jahren zu meinen Lieblingskomponisten des 20. Jahrhunderts, aber die derzeitige Krisensituation hat mich mal wieder in die Arme des Franzosen und seiner wundersam-spirituellen Musik getrieben, die in ihrer eigenwilligen Schönheit viel Trost und Zuversicht spenden kann. 

 

Wo fängt man an? Messiaens Musik ist schwer mit Worten zu beschreiben, aber so extrem unverwechselbar und sofort wiedererkennbar wie kaum ein anderer Stil eines großen klassischen Komponisten der letzten 150 Jahre. Zur Einführung lasse ich vielleicht den Dirigenten Paavo Järvi zu Wort kommen - in einem kurzen Promo-Video für eine tolle CD, die er Ende letzten Jahres mit dem Züricher Tonhalle-Orchester aufgenommen hat, mit vier frühen Orchesterwerken Messiaens aus den 30er Jahren: 

 

Allen seinen Werken gemeinsam - von den 20er Jahren bis Anfang der 90er Jahre - ist eine tiefe Spiritualität, die sich aus Messiaens Naturverbundenheit und seinem Pantheismus speist. Fast alle Werke haben religiöse Bezüge bzw. vertonen Motive der katholischen Glaubenswelt: von der Auferstehung und Verklärung Jesu, über biblische Motive wie die Offenbarung des Johannes, bishin zur Porträtierung von Heiligenfiguren wie Franz von Assisi. Die Zugänge zu diesen Themen sind aber nicht trocken-theologisch und auch alles andere als traditionell, sondern von einer unglaublichen musikalischen (und philosophischen) Poesie und Opulenz geprägt. Messiaens Musik schillert prachtvoll in allen erdenklichen Farben (er selbst war Synästhetiker, d.h. er verband Klänge und Harmonien mit Farben), und seine Werke wirken auch deutlich impressionistischer und "jenseitiger" als die Musik vieler seiner Zeitgenossen. Ein vollkommen eigener und unverwechselbarer Klang, der etwas Magisch-Verzaubertes an sich hat - und durchaus auch etwas Bildhaftes, fast Filmisches. 

Das Hauptthema seiner Musik ist die Transzendenz, die im christlichen Glauben, aber auch in der Natur liegt. Vögel waren für ihn göttliche Wesen, die eine Brücke zwischen irdischer Welt und himmlischem Jenseits bilden, und deswegen eine besondere thematische Stellung in seinen Werken einnehmen. Messiaen war passionierter Vogelkundler, und hat die Gesänge zahlreicher Spezies annäherungsweise in Musik notiert und in seine Werke miteinfließen lassen. In vielen Werken ab den 1940er Jahren sind solche "Vogelstimmen" im musikalischen Satz verarbeitet, vor allem im Klavier, aber auch in den Holzbläsern. Messiaen schrieb in den 50er Jahren Werke wie "Oiseaux exotiques" für Klavier, Bläser und Schlagzeug, welches die Gesänge exotischer Vögel verarbeitet, sowie einen ganzen "Catalogue d'oiseaux" für Klavier (1958) - ein dreizehnsätziges Werk, wo jeder Satz einen Vogel, und die französische Region, in der er heimisch ist, porträtiert. Ganz im Sinne seiner pantheistischen Weltsicht, nach der sich Gott überall in der Natur manifestiert, werden hier auch die Geographie, das Klima, die Düfte und die Atmosphäre der Landstriche mitvertont. Absolute Naturmusik, wenn man so will. 

Wichtig für Messiaen war auch seine lange Tätigkeit als Kirchenorganist. Durch alle Phasen seines Schaffens hindurch hat Messiaen für Orgel solo komponiert, und viele seiner Werke (v.a. in den 30er und 40er Jahren) haben choral-ähnliche, an die Orgel-Registratur angelehnte Sätze bzw. lassen sich als transzendente "Gesänge" deuten. Eins der schönsten Beispiele ist der erste Satz des frühen Orchesterwerks "L'ascension" (1932-33) - ein wunderschöner Bläserchoral, der sofort Messiaens eigenwillige modale Harmonik (dazu in den nächsten Tagen mehr!) erkennen lässt. 

Mit diesem herrlichen Klangbeispiel möchte ich diese Einführung auch schon abschließen - mit Aussicht auf weitere Empfehlungen in den kommenden Tagen und Wochen. :)

 

 

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Danke erstmal hierfür und die schöne Einführung in sein Werk. Auch das Video und das erste Klangbeispiel finde ich sehr gut gewählt. Dieses Magisch-Verzauberte zieht mich auch direkt in seinen Bann und weckt natürlich direkt die Lust auf mehr. Deswegen bin ich schon sehr auf deine weiteren Ausführungen gespannt. :)

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Am 26.3.2020 um 08:15 schrieb TheRealNeo:

Danke erstmal hierfür und die schöne Einführung in sein Werk. Auch das Video und das erste Klangbeispiel finde ich sehr gut gewählt. Dieses Magisch-Verzauberte zieht mich auch direkt in seinen Bann und weckt natürlich direkt die Lust auf mehr. Deswegen bin ich schon sehr auf deine weiteren Ausführungen gespannt. :)

Danke, freut mich, wenn die Stücke schon mal Anklang fanden. :)

Ich mache gleich mal weiter mit "L'Ascension", dem Orchesterwerk von 1932 (siehe zweites Video oben): Messiaen hat das Werk ein Jahr später auch als Orgelfassung arrangiert, wie er es bei einigen seiner Werke getan hat. Gerade den ersten Satz finde ich auch in der Version für Orgel unfassbar schön - ich finde, dass die Harmonien hier sogar fast noch schöner herauskommen als im Bläserchoral der Orchesterfassung. Außerdem erinnert mich der Satz in dieser Form stark an Francis Seyrigs Filmmusik zu LETZTES JAHR IN MARIENBAD (1961), den vielleicht einige hier kennen werden (Seyrig war übrigens auch Schüler von Messiaen). 

Harmonisch hat mich schon lange kein Stück mehr so in seinen Bann gezogen wie dieser Satz... und er zeigt, was für ein riesiges Ausdrucks- und Klangfarbenpotenzial in der Satzform des Chorals liegt. 

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Für Filmmusik-Fans interessant ist auch der dritte Satz von "L'Ascension": beim letzten Abschnitt des Satzes hat man fast Arnold Schwarzenegger vorm inneren Auge, wie er vom Predator durch den Dschungel gehetzt wird (ab 4:55): 

 

Der Grund: Messiaen benutzt hier die gleiche Form von Tonleiter wie Silvestri (durchgehend) in seinem PREDATOR-Score. Die oktatonische bzw. verminderte Tonleiter, in der der Abstand zwischen zwei Tönen immer abwechselnd ein Halbton und ein Ganzton ist. Diese Tonleiter ist auch als zweiter Messiaen-Modus bekannt (Messiaen hat die Tonleitern, die er in seinen Werken benutzt hat, 1944 in seinem Buch "Technique de mon langage musical" systematisiert). 

Insgesamt hat Messiaen 7 dieser "Modi" definiert. Sie kennzeichnen sich durch die besondere Abfolge von Tonabständen (Intervallen), die eben nicht denen von Dur oder moll entsprechen, und es gibt weniger Möglichkeiten der Transposition (die Töne sind z.B. dieselben, wenn man die Leiter auf C, Es oder B startet - andere Töne wären es, wenn man sie z.B. auf F startet). Diese Tonleitern tauchen schon bei Liszt, Debussy und Bartók auf; Messiaen war allerdings der erste, der sie systematisiert und konsequent zur harmonischen Gestaltung seiner Werke benutzt hat. 

Die oktatonische Halbton-Ganzton-Leiter dürfte der populärste Messiaen-Modus sein, und wird im Jazz, wie auch in der Filmmusik verwendet. Neben Silvestri benutzen ihn auch Christopher Gordon (DAYBREAKERS) und Jonny Greenwood (INHERENT VICE) regelmäßig. 

Die Leiter im Beispiel oben startet übrigens auf B - in PREDATOR fängt Silvestri häufiger auf E oder G an, also in einer transponierten Form. 

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Am 3.4.2020 um 09:29 schrieb TheRealNeo:

Zur Filmmusik kam aber er selbst nie? Weil er auch nicht wollte oder ergab sich nie?

Nein, Filmmusik hat er nie geschrieben. Er war Zeit seines Lebens eigentlich durchgehend in E-Musik-Kreisen unterwegs, und dort auch extrem einflussreich. Er war ja einer der wichtigsten Kompositionslehrer Europas, hat Generationen von Komponisten ausgebildet, und hatte riesigen Einfluss auf die Herausbildung der Avantgarde nach dem zweiten Weltkrieg. Für Arbeit in anderen Medien hatte er wohl schlicht keine Kapazitäten mehr frei - ob er grundsätzlich Interesse dran hatte, weiß ich nicht. Mir sind jedenfalls keine Äußerungen dazu bekannt. 

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Ich muß zugeben, ihn noch nie bewußt gehört zu haben. Wo wären denn außerdem noch Einflüsse von ihm in der Filmmusik zu finden? In dem zweiten verlinkten Stück mußte ich an manchen Stellen an Rosenthals Titelthema von ISLAND OF DR. MOREAU denken. Ist aber wahrscheinlich komplett falsch, nur eine spontane Assoziation.

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Messiaen war Alain Resnais' erste Wahl für Letztes Jahr in Marienbad, aber er hat höflich abgelehnt.

Zitat

My first choice was Olivier Messiaen. I shot the film in the shadow of Messiaen, who very kindly refused saying that he could not write with precise timings, that he could not do a ballet never mind music for a film.

Die Musik komponierte letztendlich Francis Seyrig, Schüler von Messiaen und Bruder der Hauptdarstellerin Delphine Seyrig.

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vor 18 Stunden schrieb Angus Gunn:

Wo wären denn außerdem noch Einflüsse von ihm in der Filmmusik zu finden?

Vor allem natürlich dort, wo Filmkomponisten mit modalen Harmonien gearbeitet haben (sofern es nicht gerade auf Themenkomplexe wie "Mittelalter" und somit eher klischierte Verwendungsformen von Modalität bezogen ist, oder auf die Kirchentonarten, die eigentlich nichts mit Messiaen zu tun haben). Zu nennen ist natürlich vor allem Goldsmith: das Alien- bzw. Alienplaneten-Motiv aus ALIEN ist schon klar im Geiste Messiaens, es entspricht sogar einem seiner sieben Modi - mir ist leider entfallen, welchem genau, ich glaube es ist der sechste...

Ansonsten ist Jonny Greenwood einer der bekanntesten Filmkomponisten, bei dem der Messiaen-Einfluss besonders deutlich wird. Greenwood schreibt ja fast ständig modal (vor allem im Modus 2, siehe oben), seine Musik zu THERE WILL BE BLOOD ist außerdem stark von Messiaens "Quatour pour la fin du temps" beeinflusst (nicht nur harmonisch, sondern auch allgemein in der Ästhetik, siehe z.B. der Track "Eat Him By His Own Light"), und nach eigener Aussage ist die Turangalîla-Sinfonie eins seiner klassischen Lieblingswerke. Das Ondes Martenot benutzt er auch oft, wobei das natürlich - wie auch bei Elmer Bernstein - nur eine oberflächliche Gemeinsamkeit ist. 

vor 2 Stunden schrieb Oliver79:

Messiaen war Alain Resnais' erste Wahl für Letztes Jahr in Marienbad, aber er hat höflich abgelehnt.

Sehr gut, danke für das Zitat! Darf ich fragen, wo du das gefunden hast?

vor 1 Stunde schrieb TheRealNeo:

Wobei ein Alain Resnais bestimmt auch keinen Score mit 'precise timings' erwartet hätte.

Zumindest bei MARIENBAD sicher nicht, nein. :)

Letztendlich hat die Seyrig-Musik aber auch starken Messiaen-Einfluss - ich hatte oben ja schon gewisse Ähnlichkeiten zwischen Seyrig und der Orgelfassung des ersten Satzes aus "L'Ascension" unterstellt. ;) 

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Am 8.4.2020 um 06:02 schrieb Sebastian Schwittay:

Nein, Filmmusik hat er nie geschrieben. [...] Er war ja einer der wichtigsten Kompositionslehrer Europas, hat Generationen von Komponisten ausgebildet, und hatte riesigen Einfluss auf die Herausbildung der Avantgarde nach dem zweiten Weltkrieg. Für Arbeit in anderen Medien hatte er wohl schlicht keine Kapazitäten mehr frei...

Ein bisschen für "andere Medien" komponierte Messiaen eigentlich doch (und zwar durchaus auch "Gebrauchsmusik"): 1937 schrieb er die Begleitmusik für eine Springbrunnen-Show auf der Pariser Weltfachausstellung. Die Komposition, "Fête des belles eaux", widmet sich einem ungewöhnlichen Instrument, das auch Filmmusik-Freunden bekannt sein dürfte - vor allem durch die Scores von Elmer Bernstein: dem elektronischen Ondes Martenot. Die Besetzung des 8-sätzigen Stücks verlangt gleich 6 (!) davon. 

Oft spielen die Ondes Martenots im Quartett oder Quintett (z.B. in den bewegten Sätzen, siehe z.B. den tollen dritten Satz (ab 6:06)) - diese werden aber immer wieder durchbrochen von längeren Solo-Abschnitten für ein einzelnes Ondes. Den vierten Satz, in dem eine lange Solo-Melodielinie akkordisch von drei Stimmen begleitet wird, hat Messiaen drei Jahre später zum fünften - und wohl bekanntesten - Satz seines "Quatour pour la fin du temps" arrangiert. Wusste ich bis vor kurzem auch noch nicht. :) Im Video ab 8:11!

(Die Ondes-Martenot-Fassung wird übrigens in THE REVENANT verwendet, in der Szene, in der Leonardo DiCaprio im ausgeweideten Pferde-Kadaver schläft. Eins der wenigen Beispiele für einen Hollywood-Film, in dem Messiaen zu hören ist. - Als ich den Film 2016 im Kino gesehen habe, ist mir die Melodie natürlich aufgefallen, aber ich dachte, es wäre irgendein modernes Arrangement. Weit gefehlt!)

 

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Steve Bartek, nicht nur seit Anbeginn Danny Elfmans Orchestrator, sondern auch schon Gitarrist bei dessen "Mystic Knights of the Oingo Boingo" und der daraus entstandenen Band Oingo Boingo, scheint auch ein Fan zu sein. Zumindest hat er das hier heute auf Facebook gepostet.

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Am 18.4.2020 um 09:04 schrieb Alexander Grodzinski:

Steve Bartek, nicht nur seit Anbeginn Danny Elfmans Orchestrator, sondern auch schon Gitarrist bei dessen "Mystic Knights of the Oingo Boingo" und der daraus entstandenen Band Oingo Boingo, scheint auch ein Fan zu sein. Zumindest hat er das hier heute auf Facebook gepostet.

Geschmack hat er, der Mann. :) Überhaupt scheint mir Messiaen ein echter "composer's composer" zu sein. Unter Musikern wird er enorm geschätzt und verehrt (selbst in der Popmusik), während sich das "normale" Publikum eher schwer tut. Liegt aber vielleicht auch daran, dass Messiaen im traditionellen Konzertbetrieb eher mit den sperrigeren Werken der 50er und 60er Jahre vertreten ist - mit Ausnahme des "Quatour pour la fin du temps" werden die zugänglicheren Sachen aus den 30er und frühen 40er Jahren (wie "L'Ascension" und die anderen frühen Orchesterwerke) eher seltener gespielt. Eigentlich seltsam. 

 

Weiter geht es mit zwei weiteren frühen Kompositionen aus den 30ern, die wegen ihrer Kürze zumindest in Kammerkonzerten oder auf CD-Samplern häufiger anzutreffen sind: 

Die kurze Motette "O sacrum convivium" für vierstimmigen gemischten Chor von 1937 ist eins der ganz wenigen rein kirchenmusikalischen Werke von Messiaen - also ein Werk, das auch im liturgischen Kontext verwendet werden kann. Messiaen vertont dabei einen 6-versigen Text über die Eucharistie. Einen musikalischen Höhepunkt erreicht die Vertonung bereits auf der vierten Textzeile "mens impletur gratia" ("der Geist wird erfüllt mit Gnade"), im Video bei 1:04. Die oktatonisch geshifteten Akkorde und der prägnante Tritonus-Sprung in der Oberstimme sind schon unglaublich ausdrucksstark, fast schon zu ausdrucksstark für Kirchenmusik. Wunderschön auch das freie Entschweben der Oberstimmen auf dem „Alleluja“ gegen Ende, ab 3:15... Wenn mich irgendetwas für Religiösität vereinnahmen kann, dann solche Musik. :)

O sacrum convivium,
in quo Christus sumitur:
recolitur memoria passionis eius,
mens impletur gratia
et futurae gloriae nobis pignus datur.
Alleluia.

 

Wie modern Messiaens Harmonik ist, und wieviel sich by the way auch Bands wie Radiohead und Musiker wie Jonny Greenwood von ihm abgeschnitten haben, wird deutlich, wenn man sich das Stück als Transkription für Gitarre anhört: 

 

Und noch ein kurzes Vokalwerk, das vielleicht zu den populärsten Stücken von Messiaen überhaupt zählt: die "Vocalise-Étude" für Klavier und Sopranstimme von 1935. Auf YouTube gibt es hunderte professionelle und semi-professionelle Videos, Spotify findet über ein Dutzend hervorragender Aufnahmen, darunter auch Arrangements für Klavier und Oboe, Klavier und Klarinette, Klavier und Saxophon, oder gar Trompete und Orgel. ❤️ Das kurze Stück komponierte Messiaen 1935 für eine vom Pariser Gesangslehrer Amédée-Landély Hettich initierte Etüdensammlung, für die auch prominente Komponisten wie Maurice Ravel oder Heitor Villa-Lobos geschrieben haben. Die zart-impressionistische Komposition atmet noch viel vom Geist Debussys, aber es gibt natürlich auch hier die modalharmonischen Außerweltlich- und Unfassbarkeiten, wie sie der Messiaenist kennt und liebt.

1991 arrangierte Messiaen das Stück übrigens als zweiten Satz seines letzten Orchesterwerks, dem "Concert à quatre". 

 

Und hier die absolut außerirdische Version für Trompete und Orgel: 

 

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  • 2 Wochen später...

Kommen wir nun zu einem von Messiaens Hauptwerken, dem auch hier im Thread schon oft erwähnten "Quatour pour la fin du temps", oder zu deutsch "Quartett auf das Ende der Zeit". Das etwas ungewöhnlich besetzte Klavierquartett (Klavier, Violine, Cello und Klarinette) war mein Einstieg ins Schaffen von Messiaen, etwa um 2008, noch während meines Musikwissenschafts-Studiums. Es passte gut in die Zeit: Jonny Greenwoods THERE WILL BE BLOOD hatte mich gerade fest im Griff, und das Messiaen-Quartett, auf das ich in einer Vorlesung aufmerksam wurde, war bekanntermaßen ein zentraler Einfluss auf die Greenwood-Filmmusik - oder zumindest auf die Teile, die er direkt für den Film geschrieben hat. (Der Rest der Filmmusik entstammt, wie sicher auch bekannt sein dürfte, seinem eher Penderecki-nahen Konzertwerk "Popcorn Superhet Receiver".)

Wie auch immer: die transzendentale Entrücktheit des "Quatour pour la fin du temps" zog mich sofort in ihren Bann, die ätherischen modalen Harmonien schwebten monatelang in meinem Kopf herum, und vor allem die beiden langsamen Sätze 5 und 8 wurden so etwas wie meine spirituellen Wegbegleiter der nächsten Jahre. Vom Quartett gingen alle meine weiteren Messiaen-Erkundungen aus, von der "Turangalila-Sinfonie" bis ins Spätwerk der 80er und frühen 90er Jahre. 

Zur Entstehung: Messiaen schrieb das "Quatour pour la fin du temps" 1940 während seiner Nazi-Kriegsgefangenschaft im Stammlager VIII A in Görlitz. Ermöglicht wurde ihm die Komposition durch einen deutschen Offizier, der ihm Notenpapier, Bleistifte und einen eigenen Raum für Proben zur Verfügung stellte. Uraufgeführt wurde das Werk im Januar 1941 in einer Baracke des Lagers, mit Messiaen am Klavier und drei Mitgefangenen an Cello, Violine und Klarinette. Die ungewöhnlichen Umstände der Entstehung dürften zur musikhistorischen Stellung des Werks sicher beigetragen haben - das Quartett gilt als eines der Schlüsselwerke des 20. Jahrhunderts - , allerdings erreicht Messiaen auch rein musikalisch einen Gipfelpunkt seines bisherigen Schaffens. In seiner später erschienenen theoretischen Schrift "Technique de mon langage musical" systematisiert er seinen Stil und seine Tonsprache vor allem anhand des Quartetts. 

Quatuor_pour_la_fin_du_Temps.jpg

Das Quartett besteht aus acht Sätzen, die teilweise nach Szenen aus der Offenbarung des Johannes benannt sind. Interessant dabei ist, dass nur in vier Sätzen alle vier Instrumente erklingen, die restlichen Sätze sind entweder Duos, Trios oder - wie im Falle des dritten Satzes - reine Solo-Abschnitte. 

 

1. "Liturgie de cristal" (Kristallene Liturgie) - Violine, Violoncello, Klavier, Klarinette

2. "Vocalise, pour l’ange qui annonce la fin du temps" (Vokalise für den Engel, der das Ende der Zeit verkündet) - Violine, Violoncello, Klavier, Klarinette

3. "Abîme des oiseaux" (Abgrund der Vögel) - Klarinette solo

4. "Intermède" (Zwischenspiel) - Violine, Violoncello, Klarinette

5. "Louange à l’éternité de Jésus" (Lobpreis der Ewigkeit Jesu) - Violoncello, Klavier

6. "Danse de la fureur, pour les sept trompettes" (Tanz des Zorns für die sieben Posaunen [der Apokalypse]) - Violine, Violoncello, Klavier, Klarinette

7. "Fouillis d’arcs-en-ciel, pour l’ange qui annonce la fin du temps" (Wirbel der Regenbögen für den Engel, der das Ende der Zeit verkündet) - Violine, Violoncello, Klavier, Klarinette

8. "Louange à l’immortalité de Jésus" (Lobpreis der Unsterblichkeit Jesu) - Violine, Klavier

 

Ein Element, das in den ersten Sätzen besonders prominent zur Geltung kommt (besonders in der "Liturgie de cristal" und dem "Abîme des oiseaux") sind die imitierten Vogelgesänge, die auch in Messiaens Gesamtschaffen immer wieder eine wichtige Rolle einnehmen. Im ersten Satz sind es die Violine und die Klarinette, die über relativ statischen Bewegungen des Klaviers und Cellos zwitschernde Motivfetzen einwerfen. Im dritten Satz, dem reduziertesten und kargsten Teil des Quartetts, ist es dann die Solo-Klarinette, die den einsamen "Abgrund der Vögel" poetisch ausformuliert. Nur im Mittelteil ist der Vogelgesang etwas belebter, Anfang- und Endteil sind laut Satzbezeichnung "langsam, expressiv und traurig". (Ich verlinke jetzt nicht jeden Satz als YouTube-Video, bei Interesse könnt ihr euch ja leicht alle Sätze zusammenklicken, oder euch das Werk gleich ganz anhören - siehe das Live-Video weiter unten). 

Im zweiten Satz "Vocalise, pour l’ange qui annonce la fin du temps" gibt es nach einer kurzen, heftigen Einleitung erstmals eine der langgezogenen Kantilenen zu hören, die für das Werk so charakteristisch sind. Über regelmäßig tröpfelnden Akkordketten des Klaviers entspinnt sich ein langer Gesang von Violine und Cello, beide unisono spielend (im Video ab 0:52). Diese entrückte, fast 4-minütige Passage ist schon ein kleiner Vorausblick auf die beiden langsamen "Louange"-Gesänge in den Sätzen 5 und 8. 

 

Der vierte Satz, die kurze "Intermède", dürfte der zugänglichste und unterhaltsamste Satz des Quartetts sein. Der Charakter ist temperamentvoll, verspielt und insgesamt wenig dissonant. Das Klavier fehlt hier, es spielen Violine, Cello und Klarinette, teils unisono, teils raffiniert kontrapunktisch verwoben. Ein wenig volkstümlich mutet die Harmonik des Satzes an, durch die verwendete Tonleiter, die dem Zigeunermoll ähnelt. (Das Stück war übrigens das erste, das Messiaen im Gefangenenlager komponierte, zunächst noch als Einzelstück konzipiert. Erst danach erweiterte er das Werk um die restlichen sieben Sätze.)

 

Es folgt der wahrscheinlich schon allseits bekannte fünfte Satz, die "Louange à l’éternité de Jésus". Messiaen hat den Satz aus seiner (hier im Thread bereits vorgestellten) Ondes-Martenot-Komposition "Fête des belles eaux" übernommen, die er drei Jahre früher noch in Paris geschrieben hatte. Das Cello holt hier zu einem herzergreifend intensiven Gesang aus, der die Ewigkeit christlicher Gnade und Gotteserfahrung im Menschen symbolisiert. Das Klavier begleitet das Cello mit blockhaften Akkordfolgen, die die Kantilene des Cellos förmlich in die Ewigkeit tragen. Eine der schönsten Kompositionen von Messiaen überhaupt, und auch eine der schönsten des 20. Jahrhunderts. 

Hier mal eine Live-Version, weil es mit der sichtbaren Performance der Musiker doch noch intensiver wirkt (die ansonsten verlinkte DG-Einspielung mit dem grünen Cover ist natürlich auch spitze): 

 

Direkt darauf folgt ein ausgesprochen wilder und stürmischer Satz, der "Danse de la fureur, pour les sept trompettes", der insofern ungewöhnlich ist, als dass alle vier Instrumente den kompletten Satz (!) unisono - d.h. einstimmig - spielen. Hier wird die apokalyptische Thematik, die sich in der Bezeichnung einiger Sätze spiegelt, am deutlichsten. Die vier Instrumente verschmelzen quasi zu einem einzelnen, Trompeten-haften Klang, der die Posaunen der Apokalypse assoziieren soll. Der Satz ist vielleicht der formal strikteste Abschnitt der Partitur - sowohl rhythmisch (mit den typischen augmentierten Rhythmen, die Messiaen oft benutzt, d.h. Notenwerte werden durch einen nächstkleineren verlängert - am Ende passen nicht mehr 16 Sechzehntel in einen Takt, sondern eben 17 oder sogar mehr) als auch harmonisch, denn durch die Einstimmigkeit aller vier Instrumente wird der Fokus noch stärker auf die zugrunde liegenden Tonleitern gerichtet, die Messiaen dem Hörer regelrecht einhämmert. 

(Meine Oma habe ich mit dem Satz immer in den Wahnsinn getrieben, wenn ich das Stück bei ihr gehört habe. Ich finde, das Hauptmotiv ist ein absoluter Ohrwurm - keine Ahnung, was sie hatte. ;) )

 

Im siebten Satz "Fouillis d’arcs-en-ciel, pour l’ange qui annonce la fin du temps" wird Messiaen mit den titelgebenden Regenbogen-Wirbeln ("fouillis d'arc-en-ciel") wohl auf die synästhetischen Farbwahrnehmungen anspielen, die er unter dem Einfluss von Nahrungsmagel im Gefangenenlager erlebt hat. Darüber hinaus für Filmmusik-Freunde interessant: der Satz stand stilistisch Pate für die im Hintergrund laufende "Source Music" in Daniel Plainviews Anwesen am Ende von THERE WILL BE BLOOD. Das Stück wurde auch von Greenwood komponiert, heißt auf dem Album "Eat Him By His Own Light", und vertont sehr hintergründig den Alterswahnsinn des Protagonisten in der schummrigen Parallelwelt seines Refugiums - relativ passend, da ja auch der Messiaen-Satz in gewisser Weise Wahnvorstellungen thematisiert. Greenwood wählt eine bis auf die Klarinette identische Besetzung (Klavier, Violine, Cello), und gestaltet auch den Klavierpart mit seinen parallel verschobenen Akkorden sehr ähnlich wie Messiaen. 

Hier erst der siebte Satz des Quartetts, und danach der Track von Greenwood: 

 

 

Der letzte und zugleich zweite "Louange"-Satz des Quartetts "Louange à l’immortalité de Jésus" schließt konzeptionell eng an den fünften Satz an: auch hier steht eine lange Kantilene (diesmal der Violine) im Vordergrund, die akkordisch vom Klavier begleitet wird. Und auch hier gibt es wieder Elemente, die sich Jonny Greenwood in seiner Musik zu THERE WILL BE BLOOD zum Vorbild genommen hat, vor allem den ausdrucksstarken Sprung in der Melodielinie der Violine (bei 1:56), der im Thema von Plainviews Sohn H.W. zu einem regelrechten Strukturmerkmal wird (zu hören im Track "H.W. / Hope of New Fields", vor allem im Mittelteil des Tracks). Am Ende schraubt sich die Violine immer weiter in die Höhe, und auch die Akkorde des Klaviers wandern in die höchsten Lagen - und verebben am Ende in einem gläsernen, jenseitigen pianissimo-Klang.

Der Titel des Quartetts lässt sich - mit Blick auf die beiden "Louange"-Sätze - am Ende auch ganz abseits der apokalyptischen Thematik interpretieren, nämlich mit einer Abkehr von traditionellem Zeitverständnis im musikalischen Sinne. Gerade die Sätze 5 und 8 mit ihren extrem langsamen Tempi, die den Parameter Rhythmus fast komplett überwinden, setzen eine Vorstellung von Überzeitlichkeit um, von Kontemplation und Ewigkeit im mystischen Sinne, wie sie in der europäischen Kunstmusik selten ist. Wie Messiaen selbst sagte: "... [es ist] etwas Orientalisches in meiner Musik … das gibt es nicht in Europa … einen Europäer bringt das aus der Fassung…"

Damit beschließe ich meine kleine Werkeinführung, und überlasse der Musik das letzte Wort - dem letzten Satz des Quartetts: 

 

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Noch eine kleine Empfehlung hinterher: wem das "Quatour pour la fin du temps" gefällt, für den gibt es mit dem als Hochzeitsgeschenk für seine erste Frau Claire Delbos komponierten "Thème et variations" für Violine und Klavier (1932) noch ein weiteres, im Charakter sehr ähnliches kammermusikalisches Schmuckstück von Messiaen zu entdecken. 

Das kurze 10-Minuten-Stück besteht aus einem Thema und fünf knappen Variationen - die letzte ist dabei besonders schön und ausdrucksstark, und lässt im Verhältnis von Violinstimme und akkordisch-blockhafter Klavierbegleitung schon die "Louange"-Sätze des Quartetts vorausahnen. Gänsehaut pur, wenn das Klavier ab 1:14 richtig in die Vollen geht, und das eigentlich eher gebrochen-zurückhaltende Thema in einen beeindruckenden Moment des Triumphs steigert. 

Hier das Thema, die erste und die fünfte Variation aus meiner Lieblingseinspielung: 

 

 

 

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  • 6 Monate später...

Messiaen-relevanter Content: Oktatonik in Silvestris BACK TO THE FUTURE (und später auch in PREDATOR und Co). 

 

Am 2.4.2020 um 20:00 schrieb Sebastian Schwittay:

Für Filmmusik-Fans interessant ist auch der dritte Satz von "L'Ascension": beim letzten Abschnitt des Satzes hat man fast Arnold Schwarzenegger vorm inneren Auge, wie er vom Predator durch den Dschungel gehetzt wird (ab 4:55). 

Der Grund: Messiaen benutzt hier die gleiche Form von Tonleiter wie Silvestri (durchgehend) in seinem PREDATOR-Score. Die oktatonische bzw. verminderte Tonleiter, in der der Abstand zwischen zwei Tönen immer abwechselnd ein Halbton und ein Ganzton ist. Diese Tonleiter ist auch als zweiter Messiaen-Modus bekannt (Messiaen hat die Tonleitern, die er in seinen Werken benutzt hat, 1944 in seinem Buch "Technique de mon langage musical" systematisiert). 

 

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