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Alfred Schnittke


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Nach Dmitri Schostakowitsch möchte ich einem weiteren Komponisten der russischen bzw. sowjetischen Musik einen eigenen Thread widmen: dem Russland-Deutschen Alfred Schnittke.

Schnittke, der neben Sofia Gubaidulina und Edison Denissow zu den wichtigsten russischen Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählt, wurde 1934 in Engels, der Hauptstadt der Wolgadeutschen Republik geboren. Sein Vater, Harry Schnittke, war ein aus Frankfurt am Main stammender, jüdischer Journalist, der in den 20er Jahren in die Wolgadeutsche Republik emigrierte. Nach der Geburt seines Sohnes (die Mutter war Deutschlehrerin in Engels) lebte die Familie erst in Moskau, in den späten Vierzigern dann auch einige Jahre in Wien. Dort hatte der junge Alfred erstmals intensiven Kontakt mit klassischer Musik. Nach seiner Rückkehr in die Sowjetunion studierte er in den Fünfziger Jahren am Moskauer Konservatorium Komposition.

Musikalisch war die Studienzeit Schnittkes (die 50er und frühen 60er Jahre) geprägt von der intensiven Suche nach einer eigenen musikalischen Sprache. Zuerst setzte er sich mit der klassischen Moderne und der Zweiten Wiener Schule um Schönberg auseinander, später mit ganz zeitgenössischen Strömungen wie dem Serialismus und der Aleatorik. Auch seinem Landsmann Schostakowitsch fühlte sich Schnittke eng verbunden, was beim Hören vieler seiner Frühwerke deutlich wird. Die Frühwerke sind dementsprechend meist an der gemäßigt modernen, epischen Tonsprache Schostakowitschs orientiert (1. Violinkonzert), oft jedoch auch seriellen Techniken verpflichtet (2. Violinkonzert, 1. Streichquartett).

Zu einer völlig eigenständigen Kompositionsmethode fand Schnittke jedoch erst Ende der 60er Jahre mit der Komposition der berühmten 2. Violinsonate, "Quasi una sonata". Das von Schnittke formulierte Kompositionsprinzip der Polystilistik findet hier erstmals durchgehend Anwendung: die Gegenüberstellung und Kombination von völlig verschiedenen, entgegengesetzten Stilrichtungen aus verschiedensten Epochen und die neuen Bedeutungsebenen, die sich aus diesen "Material-Konfrontationen" ergeben. Das "Alte" (von Schnittke oft humorvoll als "geschminkte Leichen" bezeichnet) trifft das "Neue", und das "Neue" trifft das "Alte", und es ergeben sich völlig neue musikalische Dimensionen.

Das bewusste Spiel mit der musikalischen Vergangenheit, mit völlig unterschiedlichen Epochen, Stilen und Zitaten treibt Schnittke mit der 1. Sinfonie (uraufgeführt 1974) auf die Spitze - das riesige, 70-minütige Werk steht exemplarisch für Schnittkes collagenartige Polystilistik und zählt zweifellos zu den gewaltigsten und wichtigsten Werken der russischen Sinfonik.

Allein der zweite Satz ist ein schier unvorstellbares Hör-Erlebnis: von einem barocken Satzmodell geht Schnittke sofort über zu einer ruppig-banalen Marschmelodie, die dann völlig zerpflückt und immer wieder von avantgardistischer Klangkomposition durchbrochen wird. Nur einzelne Fragmente des Marsches sind zu hören, während es dazwischen modern und dissonant brodelt - schließlich setzt sich der Marsch wieder zusammen, erklingt also ganz am Stück, bricht dann aber auf dem Höhepunkt zusammen und explodiert in einem kakophonen Klangausbruch. Dieses bunte Treiben, in dem u.a. auch Wagners Walkürenritt zitiert wird, mündet schließlich in eine freie Jazz-Improvisation für Violine und Klavier. Alles drin also, in dieser "Un-Sinfonie", wie sie Schnittke einmal selbst bezeichnet hat.

Was ihn bei allem klanglichen Unterschied zu Schostakowitsch dennoch stark mit seinem großen Vorbild verbindet, ist (und das lässt sich an der 1. Sinfonie wunderbar aufzeigen!) das Nebeneinander von "hoher" Kunstmusik und "banalen", einfachen Formen der Gebrauchs- und Unterhaltungsmusik wie Märsche, Walzer-Melodien, Tangos oder auch Jazz. Schnittke selbst sagte hierzu auch, dass es ihm ein großen Anliegen sei, die Spaltung zwischen E- und U-Musik aufzuheben, auch wenn er sich "dabei den Hals breche".

Eine gelungene Einspielung der 1. Sinfonie gibt es z.B. auf dem Label BIS, welches eine ganze Reihe von hochwertigen Schnittke-Einspielungen herausgebracht hat:

Neben seinen insgesamt neun Sinfonien sind es auch insbesondere seine sechs Concerti grossi, an denen seine polystilistische Kompositionsmethode besonders deutlich wird. Das historische, genauer gesagt barocke Modell des Concerto grosso nutzte Schnittke vielfach als Experimentierfeld, auf dem er seine viele seiner wohl kühnsten und originellsten Werke schuf.

Am wichtigsten ist hier wohl das erste Concerto grosso aus dem Jahre 1977, mit dem Schnittke einen seiner größten Erfolge im Ausland feierte (bei den zuständigen Behörden in der Sowjetunion war Schnittkes Musik zu dieser Zeit wegen ihres experimentellen Charakters nicht sonderlich beliebt, wurde sogar häufig mit Aufführungsverboten belegt!).

Im ersten Concerto grosso lässt Schnittke drei Stilebenen aufeinanderprallen: barocke Stilismen und Formschemata, modernistische Elemente wie Mikrotonalität, sowie letztlich auch Spiegelungen und Brechungen der Unterhaltungs- und Volksmusik (ein Tango, eine auf dem präparierten Klavier gespielte, volksliedhafte Choral-Melodie als "Klammer", die am Anfang und am Ende auftaucht).

Ein wirklich spannendes, fast etwas morbid-humorvolles Stück, das für Schnittke-Einsteiger IMO bestens geeignet ist. Gibt es günstig bei Deutsche Grammophon, zusammen mit der 2. Violinsonate "Quasi una sonata", und zwei weiteren, kleineren Werken aus Schnittkes Feder:

Ganz besonders gern mag ich auch das zweite Concerto grosso, welches die Concerto-Tradition à la Bach mit Jazz-Elementen und Zitaten aus dem Weihnachtslied "Stille Nacht" kombiniert. Neben dem für Schnittke typischen Cembalo erklingen hier auch E-Gitarren und ein Drum-Set.

Auf YouTube gibt es den ersten Satz zu hören, der zweifellos zum Faszinierendsten gehört, was Schnittke je geschrieben hat:

[ame=http://www.youtube.com/watch?v=da6QHYdweNA]YouTube - Alfred Schnittke â Concerti Grossi Nr. 2 (1/4)[/ame]

Das ist Schnittkes Polystilistik in Reinform - subtiler handhabt es der Komponist in seinen vier Streichquartetten: während das erste Quartett in die frühe serielle Schaffensperiode fällt, sind die Quartette 2 und 3 bereits der Polystilistik zuzuordnen.

Besonders interessant ist das 3. Streichquartett (mein absolutes Lieblings-Streichquartett!), dessen thematisches Material zu großen Teilen aus Zitaten besteht. Gleich im ersten Satz exponiert Schnittke drei verschiedene Zitate aus drei Jahrhunderten Musikgeschichte, die dann im Verlauf verarbeitet werden: zum Einen eine Kadenzwendung aus Orlando di Lassos "Stabat Mater" (16. Jahrhundert), dann das Thema aus Beethovens großer Quartettfuge op. 133 (19. Jahrhundert) und schließlich Schostakowitschs D-Es-C-H-Motiv (20. Jahrhundert). Aus dieser einfachen Zitat-Montage entwickelt Schnittke nach und nach etwas völlig Eigenständiges, ein hochkomplexes, zugleich aber auch ungebändigt emotionales Werk, in dem schrillste dramatische Ausbrüche neben melancholischen, fast traumwandlerisch-lyrischen Passagen stehen. Schnittkes große Kunst besteht hier darin, das "Alte" (die Zitate) in völlig neuen Kontexten zu beleuchten und eine Musik zu schaffen, die nicht wie ein Stil-Mischmasch, sondern einzig und allein nach Schnittke klingt.

Was die Streichquartette betrifft, empfehle ich die Komplettaufnahme aller vier Quartette (inklusive zweier kleinerer Werke für Streichquartett) vom Kronos Quartet:

Abschließend noch etwas zu einem Bereich, der in Schnittkes kompositorischem Schaffen eine ganz besondere Rolle einnimmt: die Filmmusik.

Da viele seiner komplexen Konzertwerke in der Sowjetunion nicht selten schief beäugt, ja sogar verboten wurden, musste sich Schnittke (wie seinerzeit auch Schostakowitsch) seinen Lebensunterhalt in erster Linie mit Filmmusik verdienen. Sein filmmusikalisches Schaffen umfasst hierbei so viele Werke, wie bei keinem anderen sowjetischen Komponisten: zu über 60 Filmen schrieb Schnittke Filmmusiken, die meisten in den 70er und 80er Jahren.

Schnittke sah die Filmmusik jedoch nicht nur als bloßen Broterwerb, sondern viel eher als attraktives Betätigungsfeld, auf dem er diverse polystilistische Ideen "im Kleinen" erproben konnte. Der Film war hierfür das perfekte Medium - denn keine Musik basiert mehr auf kontrastreichen Stilkreuzungen wie die Filmmusik.

Der Berliner Dirigent Frank Strobel, dem wir u.a. schon die Neueinspielung und Neuausgabe von Sergeij Prokofiews ALEXANDER NEWSKIJ zu verdanken haben, widmet sich seit 2004 der Neuaufnahme verschiedener Schnittke-Filmmusiken - bis dato sind bereits 4 CDs mit Suiten aus insgesamt 10 Filmmusiken auf dem Capriccio-Label erschienen:

Großartige Alben mit fast durchgehend großartiger Filmmusik zu Dramen, Komödien, Kinder-, Märchen- und Zeichentrickfilmen. Leichter zugänglich als viele seiner Konzertwerke, aber dennoch äußerst bunt und experimentell präsentiert sich seine Filmmusik, in der ebenfalls verschiedenste musikalische Stilismen gegenübergestellt und teils grotesk, teils humoristisch-satirisch verfremdet werden.

Auf FilmmusikWelt läuft derzeit ein Special zu Schnittkes Filmmusik - Jonas Uchtmann hat bereits die ersten beiden Capriccio-Alben besprochen, in Kürze erscheinen auch Texte zu den Volumes III und IV:

Die IMO interessantesten Scores sind hier "Die Kommissarin" (Vol. 1), "Die Glasharmonika" (Vol. 2) und "Sport, Sport, Sport" (Vol. IV). Näheres zu den jeweiligen Musiken ist in den Texten nachzulesen.

Schnittke war lange Zeit sehr krank, hatte drei Schlaganfälle und starb schließlich schon 1998 im Alter von nur 64 Jahren in Hamburg. Seine späte Musik der 90er Jahre ist (auch ähnlich wie bei Schostakowitsch) von einer kargen Sparsamkeit und Zurückgenommenheit geprägt, die nicht Jedermanns Geschmack trifft. Die von mir vorgestellten Werke sollten aber für diejenigen, die von Schnittke noch nichts kennen, gut geeignet sein - ausgelassene, experimentelle Polystilistik, mal tragisch-dramatisch, mal richtig witzig (wie im Falle des zweiten Concerto grosso) und in jedem Fall die Beschäftigung wert. Allen, die Interesse haben, wünsche ich viel Spaß beim Hören und Kennenlernen von Schnittkes einzigartiger und hochinteressanter Musik!

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Sebastian, mein Respekt.Du hast dich nach dem großartigen Schostakowitsch - Thread auch hier wieder selbst übertroffen. Ich habe den Artikel auf Filmmusikwelt bereits das Spezial gelesen, das von Schnittkers Schaffen handelt und nach diesem Thread, den ich gerade erstmal "überflogen" habe, bin ich mehr als neugierig, diesen Mann noch weiter zu entdecken :rolleyes:.

Merci Beaucoup :)

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  • 5 Jahre später...

Für die Feiertage etwas Feierliches: 

 

 

.... oder besser gesagt eine musikalische Dekonstruktion des Feierlichen. Das kommt zumindest mir in den Sinn, wenn ich Alfred Schnittkes Konzert für Klavier und Streicher (1979) höre.

 

Gemessen und schwer schreitet das Klavier im eröffnenden Solo voran und stellt die Hauptmotive des Konzerts vor. Beethoven lässt grüßen. 

Ab 1:57 folgen melancholische, gebrochene Akkorde des Klaviers - eine Referenz an Beethovens Mondscheinsonate, die sich jedoch immer mehr in der Dissonanz verliert. Die Streicher treten hinzu, steuern ein dichtes Geflecht abstrakter Polyphonie bei.

Ab 3:21 kommt es zum einem ersten Kulminationspunkt. Mit "maestoso" ist der Abschnitt in der Partitur überschrieben, aber alles klingt gebrochen und ironisch verzerrt. Die "geschminkten Leichen", von denen Schnittke oft in Bezug auf seine Rückbezüge in der Musikgeschichte sprach, sind hier deutlich zu erkennen. 

 

Das musikalische Geschehen beruhigt sich wieder - bis schließlich etwa ab Minute 7 die Hölle losbricht. Ein Abstieg in völlige Dunkelheit, völliges Chaos, völligen Wahnsinn. Aber hört selbst. :)

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